Gedenkfeier zum 78. Jahrestag der Befreiung des KZ Ravensbrück
Ambra Laurenzi Präsidentin des IRK
Ich freue mich sehr, an diesem Jahrestag endlich wieder hier zu sein und Sie so zahlreich anzutreffen. Ein besonderes Dankeschön geht an Andrea Genest und an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gedenkstätte für die Organisation dieses Treffens, bei dem wir das Andenken an unsere Mütter und an alle Deportierten von Ravensbrück ehren, aber auch Gedanken und Projekte diskutieren und uns austauschen können.
Bevor ich fortfahre, möchte ich an unsere Freundin Vera Modjawer erinnern. Sie war Delegierte für Österreich und als Tochter einer Ravensbrückerin Angehörige der 2. Generation. Nun ist sie ganz plötzlich und viel zu früh von uns gegangen. Wir werden ihren Dynamismus und ihre Offenheit im Urteil sehr vermissen, auch wenn wir nicht immer einer Meinung waren. Ihre Stimme war aber immer sehr klar und deutlich, und das ist ein großes Geschenk. Sie wird uns sehr fehlen.
Trotz aller Schwierigkeiten hat die Arbeit des Internationalen Komitees nicht nachgelassen. Vielmehr haben wir zahlreiche Initiativen ergriffen, um das Zeugnis der ehemaligen Deportierten zu verbreiten, denn wir sind überzeugt, dass wenn man die Geschichte von Ravensbrück kennt, man auch einen genaueren und tieferen Einblick in das System der nazionalsozialistischen Konzentrationslager, seiner Hintergründe und Folgen erhält. In diesem Sinne wissen wir, dass die Geschichte der Deportation von Frauen ein sehr wichtiger Aspekt ist, der in vielen Ländern noch nicht ausreichend behandelt wird.
Eines der wichtigsten Projekte war die Ausstellung “Faces of Europe”, eine glückliche Initiative der ehemaligen Leiterin der Gedenkstätte Insa Eschebach. Sie zeigt die Portraits von Müttern des Komitees. Dank dem unermüdlichen Einsatz von Andrea Genest konnte die Ausstellung nach über zwei Coronajahren endlich der Öffentlichkeit präsentiert werden, nachdem sie zuvor unter der Kuratel von Katarina Kochkova und Stepan Vymetal im Polizeimuseum Prag online gezeigt worden war. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Die Ausstellung wurde dann hier in der Gedenkstätte gezeigt, aber erst seit dem vergangenen Jahr konnten wir sie endlich auch in anderen Ländern präsentieren: zuerst in Mailand in der ‘Casa della Memoria’, dann mit Hilfe der österreichischen Delegierten an verschiedenen Orten in Wien und schließlich in diesem Jahr, anlässlich der Gedenkwoche, am Sitz des Europäischen Parlaments in Brüssel.
Für das Komitee war das ein wichtiges Ergebnis, denn wir hielten es für unsere Pflicht, unseren Müttern Aufmerksamkeit am wichtigsten politischen Ort Europas zu verschaffen, dessen Verfassung auf den Werten und Grundsätzen beruht, die aus ihrem Leid und dem aller Deportierten entstanden sind. Wir möchten, dass diese Werte allgegenwärtig sind und für uns alle eine Lehre darstellen.
Das Europäische Parlament hat unserer Ausstellung einen sehr warmen Empfang bereitet. Entsprechend den Möglichkeiten werden wir sie im Oktober anlässlich des nächsten Treffens des Komitees auch am Sitz in Strassburg zeigen. Unsere französischen Freundinnen und Delegierten kümmern sich bereits darum.
Nach der Corona-Pandemie, die unser Leben mehr als zwei Jahre lang auf den Kopf gestellt hat, wird Europa seit 14 Monaten durch einen Krieg erschüttert, den wir niemals hätten erleben wollen.
Wir wollten keinen russischen Überfall auf die Ukraine, wir wollten keine Zerstörung ihrer Städte, wir wollten nicht die Flucht ihrer Bürgerinnen und Bürger erleben und auch keine Massengräber gefallener Soldaten.
Unsere ukrainische Freundin und Delegierte Evjenjia Boyko, die in einer vom Krieg am schlimmsten betroffenen Gegenden lebt, ist immer in unseren Gedanken und Herzen, und wir sind über ihren Sohn Konstantin mit ihr in Kontakt.
Evjenjia wurde hier, in diesem Lager, am 12. Januar 1944 geboren und hat in diesem schrecklichen Konzentrationslager ihre ersten Schritte getan. Glücklicherweise haben sie und ihre Mutter mit Hilfe von niederländischen und belgischen Leidensgenossinnen überlebt. Jetzt ist sie alt und krank und lebt wieder mitten im Krieg, ohne zu wissen, wann das alles enden wird.
Nach dem 2. Weltkrieg und nach dem verheerenden Balkankrieg der neunziger Jahre hofften wir, dass diese Kriegsgreuel nun der Geschichte angehörten und dass sich diese Tragödien nicht wiederholen würden.
Wir wollen aber auch keine Zurückweisungen and den Grenzen Europas und keine unterlassenen Seenotrettungen, die in diesen Jahren und Monaten zahlreichen Todesfälle durch Ertrinken gefordert haben. Wo ist die Solidarität zwischen den Völkern geblieben, die während des zweiten Weltkriegs einen grundlegenden und unverzichtbaren Wert darstellte?
Ich denke an die lebenswichtige Hilfe, die die kleine Evjenjia und ihre Mutter von Frauen anderer Nationen erhalten haben; ich denke an die Hilfe, die die Lagerfrauen der kleinen Stella Nikiforova zukommen ließen, die nach dem Tod ihrer Mutter als Vierjährige alleine geblieben war. Und ich denke an die Kinder, deren tote Körper nach dem Untergang eines Flüchtlingsbootes aus dem Meer gezogen wurden, weil sträflicherweise nicht genug getan worden war, um sie zu erreichen und zu retten.
Ich gebe zu, dass wir gegenüber diesen Dingen machtlos sind, aber ich verspreche Ihnen, dass das Internationale Komitee nicht müde wird, bei jeder Gelegenheit die Stimmen unserer Mütter hören zu lassen, die feierlich versprochen haben, dass sie die kommenden Generationen beschützen würden, damit diese ein ruhiges Leben führen können, unter Wahrung des Friedens zwischen den Völkern und im Streben nach Menschlichkeit.
Diese Verpflichtung wurde uns als Erbe hinterlassen. Wir von der zweiten und dritten Generation haben den Staffelstab übernommen, und es ist unsere Pflicht, dieses Versprechen nicht zu verraten.
Danke und eine schöne Feier.
Ambra Laurenzi
Gedenken am Ehrenmal für die polnischen Ravensbrückerinnen auf dem Fürstenberger Friedhof
Gedenken am Sowjetischen Ehrenmal