Tagung in Ravensbrück

03.09.2021

Die Situation in Europa und die Position des Internationalen Ravensbrück-Komitees zum Thema der unveräußerlichen Menschenrechte.

Nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs haben die vorschlagenden Länder bereits 1947 in den Verträgen, die später die Grundlage für die Gründung der Europäischen Union bildeten, das Streben nach Frieden, den Kampf gegen soziale Ausgrenzung und Diskriminierung sowie den Schutz der Menschenrechte und die Achtung der Menschenwürde zu ihren Grundprinzipien erklärt. Wir vertreten derzeit vierzehn Länder, was eine große Zahl ist, auf die wir stolz sein können. Wir stellen ein kleines Europa dar, das sich bewusst ist, dass wir die Erinnerung an eine Geschichte repräsentieren, die nun fast 80 Jahre zurückliegt; aber auf dieser Geschichte basiert das politische und zivilgesellschaftliche Aufbauwerk des gesamten Europas, das 27 Länder umfasst. Für die nach Kriegsende und in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts erzielten Ergebnisse wurde der Europäischen Union 2012 der Friedensnobelpreis verliehen, mit dem der schwierige Weg der Versöhnung bei der Wandlung Europas von einem Kontinent des Krieges zu einem Kontinent des Friedens anerkannt wird. Wenn wir uns heute mit diesem schwierigen Thema befassen, dann deshalb, weil es in Europa seit einigen Jahren besorgniserregende Anzeichen von Intoleranz, Diskriminierung und Negationismus gibt, die die erkämpften Grundsätze in Frage stellen. Wir wissen, dass es an den Grenzen Europas Lager für Flüchtlinge gibt, die aus ihren Ländern, in denen unerhörte Methoden der Gewalt und des Zwangs angewendet werden, geflohen sind und denen die Aufnahme verweigert wird. Wir wissen auch, dass es zu viele und immer häufigere Fälle gibt, in denen Menschen aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden, weil sie als „anders“ gelten, oder in denen Schriftsteller und Journalisten verfolgt werden, weil sie sich der Gesetzgebung ihrer Regierung widersetzt haben. Aber sind diese Akte von Intoleranz und Pflichtverletzung nicht die gleichen, die zur Verhaftung unserer Mütter geführt haben? Wie können wir den Opfern - und mit Opfern meine ich nicht nur diejenigen, die nicht zurückgekehrt sind, sondern alle Frauen, die in Ravensbrück waren - ein ehrendes Andenken bewahren, wenn wir nicht gegen diese Art von Unrecht und Gewalt vorgehen? Wir haben die Pflicht, ihr Andenken zu bewahren, aber damit es nicht auf die Geschichte beschränkt bleibt, haben wir auch die Pflicht, ihren Worten Aktualität zu verleihen und dort unsere Stimme zu erheben, wo Rechte nicht anerkannt werden.

Worin besteht also das Vermächtnis der Deportation, dieses zentralen Ereignisses des Zweiten Weltkriegs, wenn die Stimme der Zeugen schwächer wird und das unvermeidliche Vakuum, das durch den Lauf der Zeit entsteht, die Erinnerung an die mit Füßen getretenen Rechte zu tilgen droht? Das ist die Frage, die wir uns stellen müssen. Und bei der Suche nach einer Antwort sollten wir bedenken, dass kein Land ein isoliertes Gebilde ist, sondern eng mit allen anderen verbunden ist. Wovon also hängt die Schwierigkeit ab, die Grundsätze der Achtung und des Schutzes der Rechte des einzelnen Menschen zu teilen? Was ist im Laufe der Jahre geschehen, wodurch der Pfad der Demokratie durchkreuzt wurde?

Die Zeugnisse, die die Überlebenden an uns weitergegeben haben und deren Schrecken wir verstanden haben, scheinen nicht Teil eines kollektiven Bewusstseins geworden zu sein: Wir haben gelernt, uns an die Fakten zu erinnern, aber wir haben nicht genug zu den Ursachen und Folgen gearbeitet. Die universellen Rechte hätten zu einem gemeinsamen Erbe werden sollen, aber wir wissen, dass die Geschichte der einzelnen Länder, die uns Antworten geben könnte, einen starken Einfluss auf die Entwicklung dieser kollektiven Tragödie gehabt hat. In der Nachkriegszeit galt es, zahlreiche Probleme zu bewältigen, ganz Europa wieder aufzubauen, die durch die Kriegsjahre zerrissenen nationalen Gemeinschaften wiederherzustellen und die Beziehungen zwischen einzelnen Ländern zu erneuern. In den westlichen Ländern war dies im Rahmen eines demokratischen Systems möglich, das nie wirklich die Mitschuld und Verantwortung für Faschismus und Nationalsozialismus geklärt hat und Nischen übrig ließ, in denen sich rechtsextreme Ränder wieder einnisten konnten; in den osteuropäischen Ländern unterwarf das kommunistische Regime, das sich der amerikanischen Präsenz im Westen widersetzen wollte, die Bevölkerung einem neuen Autoritarismus, der die individuellen Freiheiten unterdrückte und die Entwicklung demokratischer Gesellschaften verhinderte.

Wir haben gesehen, dass Geschichte und Erinnerung nicht immer übereinstimmen, dass die Erinnerungen verschiedener Länder miteinander in Konflikt geraten können und dass die einzelnen Wörter in verschiedenen Breitengraden unterschiedliche Bedeutungen haben. Wir sind uns dessen bewusst, aber wir müssen dafür sorgen, dass dies nicht zu einer Einschränkung oder gar zu einem Hindernis wird, wenn wir die Werte ernst nehmen wollen, auf denen unser Komitee beruht. Unser Ziel muss, wie ich gestern sagte, ein gemeinsames Gedächtnis sein.

Die Demokratie ist uns nicht ein für alle Mal gegeben, und der Keim, der sie zerstören kann, schlängelt sich heimtückischer in die Mäander der Gesellschaft, als wir es uns vorstellen. Ich möchte an die erhellenden Worte von Lia Levi erinnern, einer während des Faschismus verfolgten italienisch-jüdischen Schriftstellerin: Man muss die Demokratie verteidigen, indem man eine Minute früher da ist, und nicht eine Minute zu spät. Die Manipulation der öffentlichen Meinung erfolgt durch invasive Systeme, die den Feind, den Anderen, erst erschaffen, der dann verfolgt werden muss und gegen den dann Ausgrenzung und sozialer Hass geschürt werden. Das nationalsozialistisch-faschistische Regime entstand nicht plötzlich, sondern nach jahrelanger Propagandatätigkeit mithilfe eines persuasiven Systems, das die Grundlage für einen Konsens schuf und Tausende von Denunzianten hervorbrachte, die bereit waren, die „Feinde“ zu anzuzeigen und ihren kleinen Raum zu schützen. Die heutigen Instrumente der Informationstechnologie haben die Reichweite der Kommunikation stark erhöht; sie üben eine tiefgreifende Kontrolle über die Stimmungen in der Gesellschaft aus: Deshalb müssen unsere Überzeugungen und die Grundsätze, die sie leiten, tief und stark sein.

„Nie wieder darf sich so etwas wiederholen“: Dieser Ruf erklang von allen Seiten, von allen Gruppen von Deportierten, als Mahnung für alle künftigen Generationen.

Als zweite Generation ist es unsere vornehmste Aufgabe, dieser Mahnung Taten folgen zu lassen, und ich hoffe, das gesamte Komitee wird sich mit Überzeugung dafür einsetzen.

Ambra Laurenzi Präsidentin