Am 11. März 1945 hatte die Französin Pienotte Poirot in Ravensbrück ihren Sohn Guy geboren. Seine Überlebenschancen waren gering.
Doch Guy blieb am Leben und konnte durch die Solidarität, den Einfallsreichtum und den Mut Ravensbrücker Häftlingsfrauen gemeinsam mit seiner Mutter die Reise in die Freiheit antreten.
Erzählt wird bis heute die Geschichte von Guy Poirot („Lumpi“):
Am 11. März 1945 hatte die Französin Pienotte Poirot in Ravensbrück ihren Sohn Guy geboren.
Als in der zweiten Märzhälfte im Rahmen der „Aktion Bernadotte“ die ersten „weißen Busse“ des Schwedischen Roten Kreuzes aus Ravensbrück Frauen aus Skandinavien, Holland, Belgien und anderen Ländern nach Schweden abholten, hatte die SS zur Bedingung gemacht, dass unter den Französinnen weder bekannte kommunistische Widerstandskämpferinnen, noch Mütter mit Kindern sein sollten.
Lisa Ullrich(12.08.1900, Odessa - 1986, Berlin), eine deutsche Antifaschistin, die im Dezember 1944 zur Blockältesten der „Mutter- und Kind“-Baracke bestimmt worden war und sich um etwa 150 hochschwangere Frauen, 100 Mütter und 96 Säuglinge verschiedenster Nationalitäten zu kümmern hatte, entwickelte gemeinsam mit ihren Kameradinnen, einer tschechischen Kinderärztin und weiteren Häftlings- Frauen eine Idee, wie Madame Poirot dennoch gemeinsam mit ihrem Sohn das Lager verlassen könne:
Das Kind wurde als gestorben gemeldet, seine Mutter kam in den Block der Französinnen und erwartete dort den Tag der Abreise.
Derweil wurde der kleine Guy von den Frauen des „Mutter und Kind“- Blocks betreut. Nach einigen Tagen war es soweit; die Busse standen bereit. Guy wurde in eine Decke eingewickelt, die sogefaltet und geschnürt wurde, dass sie wie ein Bündel der anderen Frauen aussah.
Die Namen der Frauen "wurden aufgerufen und sie gingen zum Lagertor. Jetzt kam das Zeichen für uns. Ich nahm das Bündel in beide Hände und hatte nur einen Gedanken: ‚wenn er nur nicht schreit!‘ Ich erreichte das Tor, rief der Wachmannschaft zu, dass die Frau ihr Gepäck vergessen habe, übergab es der Mutter. ‚Madame, bagage‘, sagte ich schnell. Gleich war sie zum Lagertor hinaus.“ Gerettet!
„Wir schworen uns, alles in unseren Kräften stehende zu tun, um die Kinder zu retten.“, schrieb Lisa Ullrich später in ihren Erinnerungen. Dennoch konnten in dieser Umgebung von Mangel an allem Lebensnotwendigen nur wenige Säuglinge überleben.
Guy Poirot wurde Lehrer in Paris. Sein Hochzeitsbild hatte Guys Mutter an Lisa Ullrich mit der Widmung geschickt: “seiner zweiten Mama“.
Zum 35. Jahrestag der Befreiung kam Guy Poirot mit seiner Familie und mehr als 100 Französinnen zur Gedenkveranstaltung nach Ravensbrück. Lisa Ullrich freute sich, ihn, seine Frau und die drei Kinder zu sehen.
(Quelle: Sigrid Jacobeit/ Liselotte Thoms-Heinrich; Kreuzweg Ravensbrück. Lebensbilder antifaschistischer Widerstands-kämpferinnen, „Es begann schon in Odessa, Lisa Ullrich“, S. 206-221, Leipzig, 1987)
Guy Poirot äußerte sich später in bewegenden Worte über die Frauen von Ravensbrück:
„Mein Leben verdanke ich – dieses Wort ist in seiner Ausdruckskraft noch viel zu schwach – der „Mutter Courage“. Sie hieß Lisa Ullrich und war Häftling in Ravensbrück. … Als meine verzweifelte Mutter mit den anderen Entlassungskandidaten auf dem Appellplatz stand, überreichte ihr diese mutige deutsche Antifaschistin ein Lumpenbündel: Madame, hier sind Ihre Sachen!“ Die SS-Posten sollen angewidert weggeschaut haben und verzichteten darauf, die schmutzigen Lappen zu durchwühlen. In ihnen war ich eingewickelt. Mutter sagte mir später: „Wenn ich auch nur einen Laut von mir gegeben hätte, würde es Lisa Ullrich und die anderen nicht mehr geben.“ Doch ich war zum Glück still, als wüsste ich, dass es um Leben und Tod ging. …
Und ich verdanke mein Leben auch jenen Frauen, die in der Hölle gemeinsam mit meiner Mutter litten. Mir fällt es noch immer schwer, die ganze Liebe zu begreifen, die diese Frauen für mich damals aufbrachten, … Sie sammelten Tropfen von Muttermilch, klaubten Krümchen von Mehl zusammen, um einen Brei für mich zu bereiten. …
Als Pädagoge betrachte ich es … als vornehmste Aufgabe – und die haben alle Menschen reinen Herzens -, unsere Kinder so im Geiste der Völkerverständigung und des Friedens zu erziehen und sie zu befähigen, dass sie ihre Geschicke in die eigenen Hände nehmen können, um eine bessere Welt zu errichten. Ravensbrück gab mir mit auf den Lebensweg: Das muss gemeinsam geschehen!“
(Quelle: Rede von G. Poirot während der Gedenkveranstaltung zum 40. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Ravensbrück, Junge Welt v. 22. April 1985)
Das Foto auf dieser Webseite entstammt der französischen Publikation: "Revivre et construire demain", Relié - Paris 1994, de Amicale des anciennes déportées des Ravemsbrück (Auteur), ISBN 2-9509066-0-5