28.11.1918 Amsterdam – 05.06.2012,
Ravensbrück: 09. September 1944, Reichenbach – 7. April 1945
Mitglied der Nederlandse Vrouwenbeweging (NVB),
ausgezeichnet mit der Ritterschaft im Orden von Oranie Nassau und mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland
Gesine Christina Pullen wurde am 28. November 1918 in Amsterdam geboren. Ihre Eltern waren praktizierende Christen. Ihr Vater starb während des I. Weltkrieges. Ihre Mutter heiratete dann Jan van der Woude, der in der Gewerkschaftsbewegung aktiv war. Stien hat in ihm immer ihren wirklichen Vater gesehen. Sie wurde im Geiste des Sozialismus erzogen.
In den 30er Jahren war die Familie in der Hilfe für politische Flüchtlinge aus Deutschland involviert. Mit 17 Jahren wurde Stien Mitglied der Jugend-Abteilung der Kommunistischen Partei der Niederlande (CPN). Hier traf sie auf ihren späteren Ehemann Jan Glas; sie heirateten im Jahr 1938.
Die Mitglieder der CPN waren sehr gut vorbereitet, als die Niederlande von den Nazis besetzt wurden. Jan Glas hatte sich sofort dem Widerstand angeschlossen. Stien – obwohl schwanger – tat dasselbe: auf einer alten Schreibmaschine produzierte sie Artikel für eine illegale Zeitung.
Am 23. Dezember 1940 brachte Stien ihr erstes Kind zur Welt: einen Sohn, genannt Johnny.
Am 25. Februar 1941 begann ein Massenstreik in Amsterdam und anderen Städten: ein historisch bedeutsamer Protest gegen die Deportation der jüdischen Bürger der Niederlande. Jan Glas war an der Organisierung des Streiks beteiligt. Im September 1941 wurde er von den Deutschen verhaftet.
Sehr bald kam der Sicherheitsdienst (SD) zur Wohnung von Stien für eine Hausdurchsuchung. Gemeinsam mit der Mitbewohnerin Tineke Langerhorst hatte Stien zuvor alles belastendes Material weggeworfen, jedoch fand der SD die Schreibmaschine und fragte, wem diese gehöre. Bevor Stien antworten konnte, dass das ihre Schreibmaschinen sei, sprach Tineke diese Worte an ihrer Stelle aus. Sie nahm die Schuld auf sich, weil – wie sie später sagte - Stien eine junge Mutter war. Mit dieser Aktion rettete Tineke das Leben von Stien. Der SD nahm die Schreibmaschine mit. Stien und Tineke entschieden, die Wohnung zu verlassen, bevor die Polizei zurückkäme. Zusammen mit ihrem Sohn hatte Stien die Wohnung gerade verlassen, als die Polizei zurückkehrte und Tineke verhaftete. Stien hat sie niemals wieder gesehen. Tineke Langerhorst starb im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück.
Stien schaffte es, ihren Ehemann Jan Glas im Gefängnis zu besuchen und ihm ihre Tochter Tineke zu zeigen, die am 9. Juni 1942 geboren war. Bald danach wurde Jan Glas zum Tode verurteilt. Die Hinrichtung erfolgte am 19. November 1942 in Soesterberg. 33 Mitglieder der Widerstandsbewegung wurden an diesem Tag hingerichtet, unter ihnen 18 Amsterdamer, die für den Februar-Streik verantwortlich zeichneten. In seinem Abschiedsbrief, den Stien an ihrem Geburtstag, am 28. November erhielt, schrieb Jan Glas wie sehr er Stien liebte und dass er hoffe, sie würde wieder glücklich werden mit einem anderen Kameraden.
Stien – nunmehr Witwe – setzte ihre Arbeit im Widerstand fort, indem sie Parteimitgliedern und jüdischen Bürgern, die sich verstecken mussten, Unterkunft gewährte. Im März 1944 wurde Stien verraten und verhaftet. Ihre Mutter sorgt e für die zwei Kinder.
Am 6. Juni 1944 (D-Day) wurde Stien in das Lager Vught transportiert, wo sie Zwangsarbeit im sog. Philips Commando leisten musste.
Im September 1944, als sich die Alliierten Truppen den Niederlanden näherten, wurden die Gefangenen des Lagers Vught nach Deutschland deportiert. Als Mitglied einer Gruppe von 800 Niederländischen Frauen kam Stien am 9. September 1944 im Konzentrationslager Ravensbrück an. Das Leben in Ravensbrück war grauenvoll. Die Gefangenen (Frauen, Männer und Kinder) litten unter Kälte und Hunger, wurden erniedrigt und wie Tiere behandelt. Nach einigen Wochen wurde Stien selektiert zur Zwangsarbeit für Telefunken und in das KZ-Außenlager Reichenbach transportiert.
Im Januar 1945 näherten sich die russischen Truppen. Die Gefangenen in Reichenbach wurden zum Verlassen des Lagers gezwungen und mussten durch den Schnee marschieren, von einem Lager zum anderen. Frauen, die zu erschöpft waren, um zu folgen, wurden erschossen. Im Februar erreichte die Gruppe den Ort Salzwedel in der Mitte von Deutschland. Hier endete das schreckliche Geschehen. Am 7. April 1945 wurde dieses Lager von kanadischen Soldaten befreit.
Am 6. Juni 1945 war Stien zurück in Amsterdam, im Haus ihrer Mutter. Am oberen Absatz der Treppe stand ihr 4-jähriger Sohn und fragte sie: “Liebe Mami, bitte gehst Du nie wieder weg?” Sie antwortete, dass sie alles Mögliche tun würde, um dies zu vermeiden.
Stien tat genau das: ihr ganzes Leben kämpfte sie gegen Rassismus und Faschismus und widmete sich einem dauerhaften Frieden. Die ersten Jahre nach dem Krieg gehörten ihren Kindern. 1948 heiratete sie Jan Druijf und brachte am 24. Juli 1950 eine weitere Tochter, namens Joke zur Welt.
Sie wurde Mitglied der Nederlandse Vrouwenbeweging (NVB), eine mit der Kommunistischen Partei der Niederlande (CPN) verbundene Frauenorganisation. Nicht immer war Stien mit der CNP einverstanden und verließ die Partei Ende der 1960er Jahre.
Gemeinsam mit ihrem dritten Ehemann Jo Spier nahm sie in den 1970-er Jahren an der Protestbewegung gegen die nukleare Aufrüstung teil. (Stop de Neutronenbom). 1980 wurde Stien Mitglied im Komitee der Frauen von Ravensbrück (Comité Vrouwen van Ravensbrück, SVR). Sie begann Bustouren nach Ravensbrück für Überlebende des KZ, ihre Familien und andere zu organisieren. Von 1997 bis 2009 organisierte Stien zusammen mit Ihrem Ehemann Jo Spier auch Fahrten nach Ravensbrück für Oberschüler ihrer Heimatstadt Heerhugowaard. Stien führte die Kinder über das Lagergelände und erzählte ihnen ihre eigenen Erlebnisse im Lager. Jedes Mal waren die Kinder tief berührt von ihrem Besuch in Ravensbrück und den Erzählungen von Stien und Jo. Neben diesen Fahrten haben sie auch Touren für angehende Lehrer von Grundschulen organisiert.
Im Jahr 2000 beschloss die Regierung der Niederlande Stien für ihre Arbeit im Komitee der Frauen von Ravensbrück sowie für ihren antifaschistischen Kampf im Allgemeinen zu ehren. Sie erhielt die Ritterschaft im Orden von Oranie Nassau. Fünf Jahre später wurde sie auch mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.
Stien starb im Alter von 92 Jahren, am 5. Juni 2011.
Am 5. Mai 2012 wurde eine Brücke in ihrem Heimatort Heerhugowaard nach ihr benannt: die Stien Spier-Brücke.
(Quelle: C. Leijten, “Stien Spier-Pullen”, 2010)